Von der Stoppuhr zur Wahrheit - Die Lesezeit neu gedacht
Hinweis zur Wahrnehmung:
Dieser Beitrag handelt nicht nur von Lesezeit, sondern von dem, was wir ihr an Bedeutung beimessen.
Es geht um Aufmerksamkeit, um Selbsttäuschung, um digitale Taktung – und um die Frage, wem deine Minuten wirklich gehören. Dieser Beitrag entlarvt gängige UX- und Content-Strategien, die auf “Lesezeit” setzen, und zeigt auf, wie sehr wir uns dabei selbst verlieren. Es wird kritisch, ehrlich und ziemlich persönlich. Versprochen!
Die Lüge der Zeitangabe
Die Zahl stand da. 4 Minuten. Mehr nicht. Und doch hat sie alles entschieden. Ob ich weiterlese. Ob ich überhaupt anfange. Ob ich glaube, dass der Text es “wert” ist.
Ich erinnere mich noch genau: Es war ein Sonntag. Ich war auf einem dieser großen Tech-Blogs unterwegs – ein Beitrag über Linux-Performance-Tuning hatte meine Aufmerksamkeit geweckt. Der Titel war stark, das Thema relevant, der Inhalt detailliert. Ich war gespannt. Und dann kam sie.
Diese Zahl. “4 Minuten Lesezeit.” Wie ein Urteil, das vor dem ersten Satz gefällt wurde. Noch bevor ich wirklich eingetaucht war, hatte mein Kopf schon entschieden: ‘Das lese ich später.’ Oder schlimmer: ‘So viel Zeit habe ich gerade nicht.’ Und als ich es dann doch las, war mein Kopf auf Geschwindigkeit gestellt – nicht auf Tiefe. Ich las technisch. Nicht menschlich.
Und dann kam es mir.
- Warum lasse ich mich eigentlich von einer Zahl lenken?
- Warum akzeptiere ich, dass eine technische Komponente vorgibt, wie lange etwas in meinem Kopf wirken darf?
Ich bin Entwickler. Ich baue Systeme. Ich analysiere Daten. Aber ich bin auch Mensch. Und als Mensch frage ich mich: Seit wann lasse ich mich so einfach vermessen? Seit wann akzeptiere ich, dass eine Zahl bestimmt, ob ich etwas lese – oder nicht?
Lesezeit.
Ein harmlos aussehender Zusatz. Ein UX-Baustein. Ein kleines Element in der Metazeile. Und gleichzeitig ein Urteil, ein Filter, eine Bremse. Ein Trigger, der dich entweder anzieht oder abhält – noch bevor du weißt, worum es geht.
Was viele nicht wissen: Diese Angabe beruht nicht auf deiner Aufmerksamkeit. Auch nicht auf der Tiefe des Textes oder seiner Struktur. Sondern auf einer alten Formel. Einer veralteten Annahme. Einem Standard, der keiner ist.
Das war der Startschuss für einen inneren Marathon – die Suche nach Wahrheit, nach Substanz, nach dem, was Tools versprechen, aber nicht liefern. Warum messen so viele Tools etwas, das sie gar nicht verstehen wollen? Warum wird eigentlich ein Interface definiert, das Zahlen liefert – aber keine Bedeutung hat? Ich wusste: Wenn ich das ernst meine mit Aufmerksamkeit, mit digitaler Würde, dann muss ich tiefer graben.
Ich musste eine Lösung schaffen.
Etwas, das so simpel wie mächtig ist. Etwas, das sich still verbreiten könnte – nicht viral, sondern wirksam. Etwas, das sich in Tools einnistet, in Köpfe pflanzt, in Standards unterwandert. Nicht mit Lärm, sondern mit Wahrheit. Mit einer Idee, die still größer wird, weil sie endlich Sinn ergibt.
Woher kommt die “200 Wörter pro Minute”?
Die gängige Formel für Lesezeit basiert auf einem Mittelwert, der ursprünglich aus englischsprachigen Studien stammt. Eine der am häufigsten zitierten Quellen ist eine Untersuchung von Dr. Ronald P. Carver (University of Minnesota, 1990), der in verschiedenen Messungen zeigte, dass durchschnittliche Erwachsene etwa 200–250 Wörter pro Minute bei Sachtexten lesen.
Später wurde dieser Wert von UX-Pionieren wie der Nielsen Norman Group in ihre Research-Designs übernommen. Das Webdesign übernahm ihn. CMS-Plugins wie Ghost, Medium, Wordpress zogen nach.
Was fehlte: Kontext. Individualität. Realität. Denn der Mensch liest nicht normiert. Denn:
- Ein Kafka-Absatz braucht andere Zeit als ein Twitter-Thread.
- Eine Gebrauchsanweisung tickt anders als ein Essay über Identität.
Doch die “3 Minuten” blieben – für alles.
Der Durchschnitt als Norm
Wir leben in einer Welt, die Durchschnitt liebt. Durchschnitt verspricht Sicherheit. Vergleichbarkeit. Planbarkeit. Aber er ignoriert, wer wir sind. Er versucht, Menschen auf metrische Raster zu pressen – auf Zahlen, die nicht zuhören, sondern bewerten. Durchschnitt will Ordnung, aber keine Identität.
Du bist nicht durchschnittlich.
- Nicht in deiner Aufmerksamkeit.
- Nicht in deinem Tempo.
- Nicht in deiner Tiefe.
Du bist ein ganzes Ökosystem aus Kontext, Emotion, Tagesform, Persönlichkeit und Erfahrung.
Vielleicht liest du schnell, aber verstehst wenig. Vielleicht brauchst du länger, weil du spürst. Vielleicht bist du müde. Vielleicht wach. Vielleicht gebrochen. Vielleicht voller Klarheit. Vielleicht willst du dich verlieren. Vielleicht finden.
Aber die Zahl auf dem Bildschirm interessiert das nicht. Sie kennt dich nicht. Sie weiß nichts von deiner Woche, deinem Schlaf, deiner Stimmung. Sie stellt dich in eine Linie mit Millionen anderen – und ruft: “Du auch.”
Und du glaubst ihr. Für einen Moment. Du hinterfragst es nicht, akzeptierst es, weil du es nicht anders kennst. Weil es sich wie Gewohnheit anfühlt – und Gewohnheit ist die sanfteste Form der Selbstaufgabe.
Der Philosoph Byung-Chul Han würde sagen: Wir haben uns selbst zu Maschinen gemacht.
In seiner “Müdigkeitsgesellschaft” beschreibt er, wie wir uns permanent optimieren, messen, vergleichen - bis wir vergessen haben, was Muße bedeutet. Die “200 Wörter pro Minute” sind nur ein weiteres Beispiel dieser Selbstvermessung.
Ein Algorithmus, der dir sagt, wie du zu funktionieren hast. Aber echte Zeit - deine Zeit - kennt keine Metriken. Sie kennt Rhythmus, Aufmerksamkeit, Präsenz.
Lesezeit als psychologischer Trigger
Han spricht von der “rasenden Zeit” - einer Zeit, die uns hetzen lässt, ohne dass wir wissen, wohin. Die Lesezeit-Angabe ist genau das:
ein Beschleuniger, der uns in den nächsten Moment treibt, bevor wir im jetzigen angekommen sind.
Wenn dir gesagt wird: “5 Minuten”, dann passiert etwas. Du vergleichst. Du entscheidest. Du bewertest, bevor du liest. Du kennst das Prinzip aus dem Alltag: “Nur noch 2 Stück verfügbar”, “Heute 5 kaufen, 1 gratis” – klassische Trigger, um Handlung zu erzeugen. Nur diesmal betrifft es deine Aufmerksamkeit. Das ist kein neutrales Meta-Element – das ist Bullshit!
Und das kann tödlich sein für Texte mit Tiefe. Für Geschichten, die atmen wollen. Für Gedanken, die sich nicht nebenbei konsumieren lassen. Für Inhalte, die sich nur entfalten, wenn man sie spürt, nicht nur liest. Für Erkenntnisse, die nicht im Auge entstehen, sondern im Kopf. Wahrnehmung ist kein Durchlauf. Sie ist ein Prozess. Sie will wirken, ankommen, sich setzen. Was nützt der schönste Satz, wenn er keine Sekunde Zeit bekommt, Wurzeln zu schlagen?
Du klickst. Du überfliegst. Du scrollst. Du denkst, du hast gelesen. Aber du hast nur “gescannt”. Nicht aus Faulheit. Sondern weil das System dir sagt: “So viel Zeit hast du dafür.”
Und irgendwann liest du nicht mehr, um zu verstehen. Du liest, um abzuhaken.
Hör auf damit. Deine Aufmerksamkeit ist zu wertvoll. Deine Zeit ist kein Lückenfüller. Sie ist ein kostbares Gut. Und du entscheidest, wem du sie schenkst – und wem nicht.
Mein kleinster Sohn sagte einmal zu mir: “Papa, die Seele ist das Wichtigste am Menschen.”
Und er hatte recht. Denn was wir lesen, womit wir uns beschäftigen, was wir in uns aufnehmen – das berührt nicht nur unser Denken, sondern unsere Seele. Und genau deshalb zählt jede Minute. Nicht als Zahl, sondern als Ausdruck von Bedeutung.
Aber wie misst man echte Aufmerksamkeit?
Gar nicht. Zumindest nicht objektiv.
Du kannst Lesezeit nicht standardisieren. Sie ist kontextabhängig. Emotional. Täglich anders. Und genau das ignorieren die meisten Interfaces. Sie arbeiten mit Zahlen, nicht mit Menschen.
Deshalb habe ich aufgehört, mit Standardwerten zu arbeiten. Ich wollte nicht mehr raten, wie lange du brauchst. Ich wollte zuhören.
Denn in einer Welt, in der alles getrackt wird – Klicks, Verweildauer, Scrolltiefe, Bounce Rate – ist Zuhören fast eine Revolution. Ich sehe Tools, die alles zählen, aber nichts verstehen. Interfaces, die Interaktion simulieren, aber keinen Dialog zulassen. Algorithmen, die vorgeben, dich zu kennen, aber dich nie gefragt haben, wie es dir geht. Und selbst wenn du fragst, was Telemetrie eigentlich bedeutet, wissen es viele nicht – oder würden erschrecken, wenn sie verstünden, was da alles unbemerkt gesammelt, analysiert und kategorisiert wird. Die meisten Menschen denken bei Tracking an Cookies. Aber Telemetrie ist tiefer. Sie ist systemisch. Sie steckt in IDEs, in Betriebssystemen, in Browsern – unsichtbar, aber allgegenwärtig. Und wenn du es einmal gesehen hast, kannst du es nicht mehr vergessen.
Wir leben in einem System, das Menschen wie Metriken behandelt. Das die Komplexität deiner Wahrnehmung auf ein Dashboard zwängt. Und wenn du das oft genug siehst, glaubst du irgendwann, du seist wirklich nur ein Wert zwischen zwei Balkendiagrammen.
Aber du bist nicht dein Scrollverhalten. Nicht deine Absprungrate. Nicht dein Session-Timer.
Du bist Mensch.
Und genau deshalb habe ich beschlossen, anders zu denken. Menschlicher. Klarer.
Die Idee: Kalibrieren statt schätzen
Ich wollte keine Zahl für dich raten. Ich wollte sie mit dir gemeinsam herausfinden. Du liest einen echten Text. Du drückst START. Du liest in Ruhe. Du drückst STOP. Und erst dann weißt du: “So schnell lese ich heute.” Nicht vorgestern. Nicht irgendwann. Sondern: Jetzt.
Diesen Wert speichere ich. Mit meinem eigenen JavaScript-Code. Ganz bewusst, ganz reduziert. Nur lokal. In deinem Browser – via localStorage. Kein Tracking. Keine Cloud. Keine Weitergabe. Nur du, dein Wert, dein Tempo. Du kannst ihn löschen, ändern, neu ermitteln – so oft du willst.
Und ab diesem Moment bemisst sich die Lesezeit nicht mehr an einem globalen Schnitt, sondern an deinem heutigen Rhythmus. An deiner echten Geschwindigkeit. An dem, was du jetzt gerade leisten willst oder kannst – nicht an einem verallgemeinerten Ideal. Nicht mit einem Marketing-Konstrukt. Sondern mit deinem Takt.
Warum das mehr ist als UX
- Weil es Respekt ist. Vor deiner Zeit. Deiner Energie. Deiner Konzentration.
- Weil es aufhört, dich wie eine Metrik zu behandeln.
- Weil es dir zurückgibt, was dir zusteht: Deine Kontrolle.
- Weil ich glaube, dass echte Klarheit nur dann entsteht, wenn wir aufhören zu schätzen – und anfangen zuzuhören.
Und weil ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn ein System dich dauernd überrennt.
Deine Zeit ist kein Durchschnitt
Byung-Chul Han nennt es “Authentizität” - die Rückkehr zu dem, was wirklich unseres ist. Nicht was das System von uns erwartet, sondern was wir wirklich brauchen. Zeit ist authentisch, wenn sie sich nach uns richtet - nicht nach Standards.
Du bist kein Durchschnitt. Du bist nicht 200 Wörter pro Minute. Du bist mal schnell, mal langsam, mal ganz woanders.
Also behandle ich dich auch so. So, wie ich es mir selbst wünsche, wenn ich auf anderen Websites unterwegs bin. Mit dem Gefühl, gesehen zu werden. Individuell behandelt zu werden. Nicht als Datensatz in einer Statistik voller Telemetrie – sondern als Mensch, der liest, fühlt und entscheidet.
Teste deine eigene Lesezeit – und bring System und Substanz in Einklang:
Denn wer sich selbst kennt, liest tiefer. Und wer tiefer liest, verändert die Welt. Nicht in 3 Minuten. Sondern in seinem eigenen Tempo.
Und vielleicht – ganz vielleicht – ist das der erste Schritt zurück zu etwas, das wir lange verloren haben:
Resonanz.
Danke, Byung-Chul Han – für deine Worte über unsere Müdigkeitsgesellschaft.
Ich habe deine Botschaft übersetzt – in Code, in Klarheit, in Systemkritik.
Deine Philosophie lebt hier weiter – als Funktion.
Nicht als Theorie, sondern als Handlung. Nicht in 200 Wörtern pro Minute – sondern in echter Zeit.
Euer Mehmet